GESTALTUNG das wäre mit analogen Lernmaterialien viel schwerer zu realisieren. b+: Inwiefern bildet das Projekt eine Brü- cke vom Geschichtsunterricht zu anderen Fächern, z.B. Politik, Deutsch oder Geo- graphie? Bernd Grewe: Viele der historischen Kom- petenzen haben ihre Entsprechung auch in den genannten Fächern, so hat eine gelun- gene historische Narration viel mit einer Erör- terung im Deutschunterricht gemeinsam. Die Dekonstruktion von Texten – ob als Quellen oder Geschichtsdarstellungen – wird in bei- den Fächern trainiert, auch das Herausarbei- ten der Perspektivität findet sich in ähnlicher Form auch im Politik- oder Geographieunter- richt. Trotzdem kennzeichnet das historische Lernen eine grundlegend andere Schwierig- keit: Geschichte lässt sich nur als Konstruk- tion, also in Form von Erzählungen über die Vergangenheit, greifen, diese Vergangenheit ist uns aber nicht mehr direkt zugänglich. Wir können also – anders als die gegenwarts- orientierten Fächer und Wissenschaften – nicht beweisen, dass unsere Geschichte, also unsere Erzählung über die Vergangen- heit, tatsächlich zutrifft. Kein Experiment und keine Befragung kann belegen, dass unse- re Geschichtskonstruktion der vergange- nen Realität entspricht. Wir können nur mit Plausibilitäten arbeiten, dazu müssen wir die verfügbaren Überreste befragen und sie in- i DITHO Ein besonderer Dank für die ge- lungene Zusammenarbeit bei der Lernplattform offene-geschich- te.de geht an die Designagentur DITHO, die das Design, die Pro- grammierung und die Umsetzung der gelungenen Trailer verantwort- lich zeichnen. www.dithodesign.de terpretieren. Aber keine Interpretation kann die abschließende Gültigkeit beanspruchen. Wohl können wir aber überprüfen, inwiefern die Quellen kritisch untersucht, aus ihrem zeitgenössischen Kontext heraus interpre- tiert wurden und ob die erarbeitete Kausalket- te logisch überzeugt. Die Widersprüchlichkeit der Quellen, die in ihnen enthaltene Perspek- tivität, das Problem ihrer Auswahl und In- terpretation, die Konstruktion einer neuen, wahrscheinlichen Geschichte sind Probleme, die beim historischen Lernen im Mittelpunkt stehen. Dabei werden genau jene Fähigkei- ten trainiert, die wir in einem Zeitalter von Falschmeldungen und Fake News benötigen, um uns in einer immer komplexeren Gegen- wart zu orientieren. Genau das sollte der Ge- schichtsunterricht erreichen. b+: Kann der Geschichtsunterricht und speziell die Plattform „Offene Geschich- te“ einen Beitrag zur Demokratiebildung leisten? Bernd Grewe: Das sollte zumindest ein we- sentlicher Anspruch des historischen Ler- nens sein. Die Auseinandersetzung mit offenen Situationen in der Vergangenheit, wie wir sie hier in den Modulen zu den be- drohten Ordnungen gestalten, dient einer sehr wichtigen Einsicht für demokratische Bildung: Die von den Lernenden vorgefun- dene Gegenwart mitsamt ihren politischen Strukturen, der parlamentarischen Demokra- tie, mit der spezifischen Parteienlandschaft, der Medienstruktur, den sozialen Ungleich- heiten, kulturellen Deutungskämpfen, dem Verhältnis von Religion und Staat – all dies lässt sich aus seiner Genese heraus besser verstehen. Aus Sicht der Demokratiebildung ist aber wohl die grundlegende Einsicht be- sonders wichtig, dass es auch ganz anders hätte kommen können. Dann erscheinen die gegenwärtigen Strukturen nicht mehr als das Ende einer als fast zwangsläufigen Entwick- lung, sondern als das kontingente Ergebnis einer unendlichen Kette menschlicher Ent- scheidungen. In Möglichkeiten zu denken, die Offenheit von Entscheidungssituationen und die Gestaltbarkeit der Zukunft reflek- tieren zu können, das eröffnet den heran- wachsenden Generationen neue politische Horizonte. Das trägt dazu bei, den eigenen Möglichkeitsspielraum in seiner vollen Breite erst wahrnehmen zu können und eine selbst- bewusste, reflektierte politische Orientierung zu unterstützen. Zwei prägnante Kurzfilme zu Zielen der Plattform und das Konzept „Bedrohte Ordnungen“ (www.offene-geschichte.de) bildung+ schule digital 1| 2021 17
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