Gestaltung Zweitens sollen die Lernenden – wo immer möglich – eigene Entscheidungen und Urtei- le über die von ihnen zu bearbeitenden Quel- len treffen, das heißt, sie reflektieren eigene Vorannahmen und Vorstellungen und sie for- mulieren eigene Deutungen. Unsere Aufga- ben halten das Ergebnis aber offen, sodass die Lernenden tatsächlich zu verschiedenen Interpretationen und Beurteilungen gelangen können. (Bei den ersten Modulen, die für den Fernunterricht konzipiert sind und eine syn- chrone Lernbegleitung durch die Lehrkraft nicht zwingend vorsehen, mussten aufgrund eingeschränkter technischer Möglichkeiten hierbei noch einige Kompromisse bei der Selbststeuerung eingegangen werden. Die gerade im Aufbau befindlichen Module er- weitern die Entscheidungsmöglichkeiten für die Lernenden noch einmal erheblich.) Drittens fördern wir das sogenannte „metako- gnitive Wissen“ der Schülerinnen und Schü- ler. Damit ist gemeint, dass wir ihnen vor Augen führen, dass jede Darstellung von Ge- schichte und jede Quelle eine Konstruktion sind. Über ihre Lesart und daraus folgenden Geschichtsdarstellungen lässt sich deshalb streiten, niemand kann beanspruchen, die eine wahre und zutreffende Geschichte prä- sentieren zu können. Man muss vielmehr darüber diskutieren, welche Geschichte plau- sibler und triftiger ist. Das ist aber das genaue Gegenteil von mehr oder weniger auktorialen Geschichtsbildern im Unterricht oder in vie- len Geschichtsbüchern, in denen suggeriert wird, dass sie die zutreffende Geschichtser- zählung liefern. Die Kontroversität von Ge- schichte – eines der zentralen didaktischen Unterrichtsprinzipien – fällt dabei unter den Tisch, Geschichte ist auch in dieser Hinsicht offen. Viertens wählen wir einen anderen Ausgangs- punkt für unsere Module, nämlich offene his- torische Situationen. Wir setzen thematisch da an, wo sich Menschen in einer akuten und existenziellen Bedrohungssituation be- fanden. In solchen Situationen mussten sie ihre Möglichkeiten abwägen und unter ho- hem Zeitdruck Entscheidungen treffen. Hier steigen wir ein und versetzen die Lernenden in diese Entscheidungssituation zurück. Sie erkennen dann, dass die Zukunft für die Zeit- genossen offen war und dass es auch ganz anders hätte kommen können. Demgegen- über arbeitet der Geschichtsunterricht sonst meist retrospektiv, das heißt, er geht vom Er- gebnis aus und versucht, die neue Situati- on durch die chronologisch vorangehenden Prof. Dr. Bernd-Stefan Grewe leitet seit 2017 das Institut für Geschichtsdidaktik und Public History an der Universität Tübingen. Ge- schichtsdidaktische Schwerpunkte sind hier das historische Lernen im digitalen Zeitalter und handlungsorientierte Medienkompe- tenzen im Geschichtsunterricht, im Bereich der Public History insbesondere das materiel- le und kulturelle Erbe des Kolonialismus sowie Geschichts- und Erinnerungspolitik. Blog www.historischer-augenblick.de und Twitter @histoBlick. Prozesse und Entscheidungen zu erklären. Die Offenheit der historischen Situation wird bei dieser Vorgehensweise aber meist aus den Augen verloren und die Retrospektive lässt bestimmte Entwicklungen als zwangs- läufig erscheinen, die zeitgenössischen Alter- nativen fallen häufig unter den Tisch. Mit den Bedrohungssituationen schaffen wir außer- dem einen spannenden Lernanlass, der sich näher an die Ebene der historischen Akteure heran begibt und ihre oft qualvollen Entschei- dungen ins Zentrum stellt. Die grundlegen- de Einsicht, dass auch für die Zeitgenossen die Zukunft offen und ungewiss war, öffnet den Lernenden neue Deutungshorizonte, er- leichtert Fremdverstehen und beugt unre- flektierten Vorurteilen über die Unwissenheit vergangener Generationen vor. Zugleich er- hält der Lernprozess einen dramaturgisch interessanten Spannungsbogen, der die Ler- nenden offenbar stärker motiviert, wie uns die bisherigen Rückmeldungen bestätigen. b+: Trotzdem verwendet „Offene Ge- schichte“ doch auch relativ kleinschrittige Aufgaben, die den Lernprozess lenken, wie offen ist denn letztlich der Lernpro- zess? Bernd Grewe: Auf den ersten Blick wirken viele Aufgaben zunächst tatsächlich eher geschlossen. Wer etwas näher hinsieht, stellt fest, dass es sich dabei nur um solche Aufgaben handelt, die die Lernenden beim Verständnis etwa einer Quelle unterstützen wollen. Nehmen wir beispielsweise das Mo- dul zum Ersten Kreuzzug, meist Stoff der 7. Klasse. Der Kaiser von Konstantinopel ruft um Hilfe. Da bieten wir mehrere Aussagen an, die Lernenden sollen nun die zutreffen- den Aussagen von solchen trennen, die sich nicht in der Quelle finden. Damit gewinnen sie Sicherheit, den Text wirklich verstanden zu haben. Hierfür wird im lehrerzentrierten Unterricht oft viel Zeit aufgewandt, die wir aber sparen wollen, um mehr Zeit für die In- terpretation zu gewinnen. Außerdem bieten wir den Lernenden wiederholt Hilfestellungen hinter einem kleinen Kompasssymbol, dieses Scaffolding soll gerade unsichere Lernende unterstützen. Sehr schnell werden sie dann aber etwa zur konkreten Interpretation eines Satzes aufgefordert, der zu ergänzen ist. Bei diesen gelenkten Formen der Quellenerschlie- ßung bleiben wir aber nicht stehen. Sondern die Lernenden werden hier bereits zu einer eigenen Einschätzung aufgefordert, ob nach ihrer Ansicht das oströmische Kaiserreich tat- sächlich gefährdet war. Da müssen sie sich entscheiden und dies mit Bezug auf die Quel- le begründen, indem sie den Satz zu Ende führen: „Meiner Ansicht nach ist das Kaiser- reich von Kaiser Alexios I. sehr/ etwas/ kaum/ gar nicht gefährdet. Das ist daran zu erken- nen, dass erstens … und dass zweitens …“ Sie müssen sich also auf die Informationen aus der Quelle beziehen und so unterstützen wir ihr eigenes Urteil, ohne sie von Anfang an auf eine bestimmte Lesart der Quelle und der historischen Situation festzulegen. Immer wieder fordern wir die Lernenden dazu auf, ihre eigene Sicht zu formulieren und selbst zu interpretieren. So sollen sie etwa überlegen, weshalb Ritter an den Kreuzzügen teilge- nommen haben. Wir bieten ihnen folgende, ein differenziertes Argumentieren stützende Formulierungen als Starthilfe: „Für die Rit- ter könnte die Teilnahme an einem Kreuzzug attraktiv sein, denn sie … Auf der anderen Seite spricht dagegen, dass … Von diesen Gründen, die für oder gegen eine Teilnahme sprechen, halte ich … für den wichtigsten, denn …“ Genau hier zeigt sich eine spezifi- sche Stärke des digitalen Lernens: Denn wir bieten Hilfen zu einer mehrperspektivischen Analyse, auf die sich die Lernenden einlas- sen können, die sie aber auch verwerfen und ungenutzt lassen können. Wiederholt können sie auch zwischen mehreren Aufgaben oder den zu untersuchenden Quellen wählen. All 16 bildung+ schule digital 1| 2021
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