Page number 14

 Der richtige Umgang mit ADHS in der Schule Wie Lehrer:innen auffälliges Verhalten erkennen und Unterricht adäquat gestalten Es wird wohl kaum eine Lehrkraft geben, die nicht schon einmal mit einem Kind konfrontiert wurde, bei dem die Auf­ merksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, vermutet oder sogar diagnostiziert wurde. Wesentlich klei­ ner dürfte hingegen die Zahl der Lehrer:innen sein, die wissen, was zu tun ist, wenn sich ein Kind auffällig verhält oder wenn Schüler:innen unter ADHS leiden. D er Selbsthilfeverein ADHS Deutschland geht aufgrund aktueller Schätzungen da- von aus, dass rund 5 Prozent aller Kinder im Alter zwischen 3 und 17 Jahren von der Stö- rung betroffen sind. Bei Jungen wird ADHS viermal häufiger diagnostiziert als bei Mäd- chen. In einer anonymen Onlineu­ mfrage un- ter allgemeinbildenden Schulen in Hamburg kam heraus, dass nach Einschätzungen der 111 teilnehmenden Schulen durchschnitt- lich 4,36 Prozent der Schulkinder eine ADHS-Diagnose gestellt bekamen. Allerdings gehen die Schulen auch davon aus, dass die i ADHS-Kinder unterrichten Ziel des internationalen Erasmus+-Projekts „Teaching AD(H)D Children“ (TAC) ist es, das Bewusstsein der Lehrkräfte für das Phä- nomen ADHS zu schärfen und ihre Fähig- keit mit dessen Umgang zu verbessern. Die Projektteilnehmer wollen die Voraussetzun- gen für eine Aktualisierung der länderspezi- fischen Lehrpläne sowie für die berufliche Weiterbildung von Lehrkräften in der Primar- und Sekundarstufe schaffen. Dafür werden Schulungs- und Weiterbildungsangebote konzipiert, die in Lehrpläne integriert wer- den können. Aus Deutschland ist eine For- schungsgruppe des Departments Heilpä- dagogik und Rehabilitation der Universität zu Köln unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Charlotte Hanisch an dem Projekt beteiligt. Weitere Informationen: https://teaching-adhd- children.eu/de Zahl der betroffenen Schüler:innen wesent- lich höher ist. Sie liege laut Umfrage bei 8,74 Prozent. Seit 2003 führt das Robert-Koch Institut die Studie zur Gesundheit von Kindern und Ju- gendlichen (KiGGS) durch. Der Studie zu- folge liegt bereits im Vorschulalter bei bis zu 2 Prozent der Kinder eine ADHS-Diagno- se vor. Im Grundschulalter (7 bis 10 Jahre) nimmt der Anteil der von ADHS betroffe- nen Kinder erwartungsgemäß stark zu. Er liegt bei 5,1 Prozent und steigt bei den 11- bis 13-Jährigen sogar auf 7,1 Prozent. Bei älteren Jugendlichen nimmt die Zahl der Diagnosen dann wieder ab. Sie liegt für 14- bis 17-Jährige bei 5,6 Prozent. Laut den KiGGS -Ergebnissen sind darüber hinaus Kin- der und Jugendliche, die in sozial benach- teiligten Familien aufwachsen, sig­nifikant häufiger von ADHS betroffen als Gleichaltri- ge aus sozial bessergestellten Familien. Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität Da ADHS-typische Auffälligkeiten stark von der jeweiligen Situation abhängen, ist es für Lehrkräfte nicht ganz einfach, im Schulalltag Hinweise auf diese Störung zu erkennen, zu- mal sie ganz unterschiedlich ausfallen kön- nen. Grundlegend zeigt sich ADHS in einer erhöhten Unaufmerksamkeit, einer gestei- gerten Impulsivität sowie in Hyperaktivität. Gerade bei Aufgaben, die eine gewisse Rou- tine verlangen und Wiederholungscharak- ter haben, zeigen sich diese Eigenschaften. Schüler:innen mit ADHS können sich nicht fo- kussieren und haben Schwierigkeiten damit, sich selbst zu strukturieren und zu organi- sieren. Daher treten ADHS-typische Verhal- tensweisen eher in Unterrichtsformen auf, die den Schüler:innen viele Freiräume las- sen. Gibt die Lehrkraft die Struktur des Un- terrichts vor, wird es schwieriger, auffälliges Verhalten zu erkennen. Unaufmerksamkeit und Impulsivität zeigen sich bei Kindern mit ADHS durch mangeln- de Sorgfalt im Arbeits- und Lernstil. Aufga- ben werden zwar schnell erledigt, aber die Schüler:innen missachten viele Details. Ihr Vorgehen wirkt ungeordnet. Sie beginnen eine Aufgabe, lassen diese dann fallen und widmen sich einer anderen, die aber eben- falls nicht beendet wird. Impulsives Ver- halten zeigt sich auch dadurch, dass die Schüler:innen mit Antworten herausplatzen, bevor die Lehrkraft die Frage überhaupt zu Ende gestellt hat. Die geringe Frustrations­ toleranz führt schließlich auch dazu, dass Kin- der mit ADHS schnell wütend werden. Des Weiteren müssen Lehrer:innen häu- fig Anweisungen wiederholen, da ADHS- Schüler:innen diese oft vergessen. In Gesprächen fällt es ihnen schwer, der Lehr- kraft zu folgen. Ohnehin lassen sich diese Schüler:innen leichter ablenken. Dass die Aufmerksamkeitsspanne verhältnismäßig kurz ist, können Lehrer:innen auch an Klas- senarbeiten feststellen. Von ADHS betroffene Schüler:innen machen in schriftlichen Arbei- ten am Anfang wenig Fehler. Zum Ende hin häufen sich diese aber auffällig. Impulsives Verhalten kann auch dazu füh- ren, dass betroffene Schüler:innen bei Sport und Bewegung ein geringes Durchhaltever- mögen aufweisen. ADHS kann sich jedoch auch ganz anders zeigen, wenn weniger die 14 bildung+ referendare 2023

Page number 15

LEHRER SEIN Impulsivität als vielmehr die Hyperaktivität im Vordergrund steht. Hyperaktives Verhal- ten ist ebenfalls ungeordnet und unstruktu- riert. ADHS-Kinder folgen ihrem überhöhten Bewegungsdrang auch in Situationen, in de- nen Bewegung völlig unpassend ist. Im Unter- richt können hyperaktive Schüler:innen nicht lange stillsitzen. Und selbst wenn sie sitzen, geben sie Geräusche von sich, singen oder sprechen. Verlauf der Störung im Kinder- und Jugendalter Es liegt auf der Hand, dass ein ADHS-typisches Verhalten den Lernerfolg der betroffe- nen Schüler:innen gefähr- det. Für Lehrer:innen ist es gerade im Grundschulal- ter schwer, das Verhalten richtig zu deuten, weil es den Schüler:innen häu- fig gelingt, die Auffällig- keiten einigermaßen zu kompensieren. Allerdings kommt es dann auf wei- terführenden Schulen zu Problemen, wenn die Anfor- derungen ans Lernen steigen und ADHS-Schüler:innen nicht mehr mithalten können und sich als Folge der Schule verweigern und/ oder im Sozialverhalten auffällig werden, indem sie den Unterricht stören und auf Kon- frontationskurs mit der Lehrkraft gehen. Dem- entsprechend werden ADHS-Schüler:innen im Vergleich zu unauffälligen Kindern häufiger vom Unterricht ausgeschlossen, der Schule verwiesen, müssen die Klasse wiederholen oder wechseln auf Förderschulen. Im Jugendalter nehmen die Auffälligkeiten eines ADHS-typischen Verhaltens ab. Das beizeht sich aber in der Regel hauptsäch- lich auf das motorische Verhalten. Dagegen sind Impulsivität und Unaufmerksamkeit wei- terhin vorhanden, auch wenn sie ebenfalls in abgeschwächter Form auftreten können. Sie äußern sich in einem gesteigerten Hin- wegsetzen über geltende Regeln und Geset- ze. Das Suchtrisiko ist erhöht, sowohl was den Missbrauch von Substanzen angeht als auch mit Blick auf die Entwicklung einer In- ternet- und Computerspielsucht. Darüber hi- naus treten auch häufig Depressionen oder Beziehungsstörungen auf. Strukturierung des Unterrichts Wurde bei einem Schulkind ADHS diagnos- tiziert, stellt sich die Frage, wie neben einer adäquaten Förderung die Lehrkraft in der Klasse Rahmenbedingungen schaffen kann, um ein gemeinsames Lernen ohne Störungen zu ermöglichen. Dabei ist eine räumlich und Schüler:innen, die ein ADHS-typisches Verhalten zeigen, sind häufig unaufmerksam und lassen sich leicht ablenken. Dementsprechend muss für sie der Unterricht gestaltet werden. © stock.adobe.com, imtmphoto zeitlich gut strukturierte Lernumgebung mit wenig Ablenkung grundlegend, die übrigens allen Schüler:innen zugutekommt. Die Sitzordnung sollte so gewählt werden, dass sowohl frontaler Unterricht als auch Gruppenarbeiten möglich sind, ohne dass ein großes Tischrücken nötig wird. Dabei er- hält das verhaltensauffällige Schulkind einen festen Sitzplatz entfernt von Türen und allem, was ablenken könnte, wie etwa Bücherregale oder Poster an der Wand. Der Platz sollte zu- dem möglichst in der Nähe der Lehrkraft ge- wählt werden. Das dient dazu, unmittelbar auf das Verhalten des Kindes eingehen zu kön- nen, vor allem, um es bei positivem Verhal- ten zu loben. Als Sitznachbarn eignen sich vorbildhafte Kinder, von denen sich das ver- haltensauffällige Kind im Sinne des Modell- lernens etwas abschauen kann. Verhaltensauffällige Schüler:innen profitie- ren von einer klaren Arbeitsstruktur mit fest definierten Abläufen. Hilfreich ist dabei die Visualisierung der Abläufe etwa anhand von Piktogrammen. Damit die Schüler:innen wis- sen, wie viel Zeit sie für eine Aufgabe haben, kann eine für alle gut sichtbare Uhr genutzt werden. In Unterrichtsphasen mit Stillarbeit soll- te die Lehrkraft darauf achten, Ab- lenkungen zu minimieren. Dabei kann zum Beispiel ein Sicht- schutz helfen, der jedoch der Lehrkraft genügend Einsicht auf das Kind bietet. Darüber hinaus kann das Schulkind Ohrenstöpsel oder Kopfhö- rer bekommen. Eine besondere Heraus­ forderung für Kinder mit ADHS ist der Wechsel der Lehrkraft oder des Unter- richtsraums. Hier braucht es klare Handlungsanwei- sungen. Die Lehrkraft sollte dem Kind verdeutlichen, was von ihm in solchen Situationen er- wartet wird. Verabredete Signale wie etwa ein Händeklatschen oder das Auf- legen der Hand auf die Schulter sollen an das gewünschte Verhalten erinnern. Kommt es zu Abweichungen, sollte die Lehrkraft die- se vorher erklären und Unterstützung anbie- ten, damit verhaltensauffällige Schüler:innen keine Ängste oder Widerstände entwickeln. Klare und eindeutige Aufforderungen Wichtig bei alldem ist, dass die Lehrkraft ge- genüber dem betroffenen Kind klare und ein- deutige Aufforderungen formuliert und nicht um etwas bittet. Die Aufforderung sollte nur eine handlungsorientierte Anweisung be­ inhalten und wird nur dann gestellt, wenn das Kind aufmerksam ist. Sie sollte nachvollzieh- bar sein und positiv formuliert werden. Auf diese Weise lässt sich das Verhalten steu- ern und ein störungsfreier Unterricht durch- führen. Marc Hankmann bildung+ referendare 2023 15

    ...