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© Hilla Südhaus/BLE Beim Ernährungsführerschein wird das Klassenzimmer zum Kochstudio. Die Kinder lernen viel über Ernährung und bereiten selbst frische Mahlzeiten zu. Ernährungsbildung in der Schule Vorbeugen ist besser als Heilen Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans bekanntlich nimmermehr. Und was er als Kind lernt, bleibt meist sehr lange in seinem Gedächtnis. Das gilt nicht nur fürs Lesen, Rechnen und Schreiben. Auch die Grundlagen gesunder – oder ungesunder – Ernährung werden schon im Kindesalter gelegt. Grund genug, Ernährungswissen dort zu vermitteln, wo alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden: in der Schule. D ie Gesundheitsexpert:innen schlagen Alarm. Die Zahl der übergewichtigen Kinder ist in den beiden Coronajahren rasant gestiegen. Schon vor Corona waren 15 Pro - zent der Kinder und Jugendlichen über gewichtig, 6 Prozent hatten sogar starkes Übergewicht. Seit Beginn der Coronapande- mie sind nach einer repräsentativen Eltern- Befragung des Meinungsforschungsinstituts Forsa 16 Prozent der Kinder und Jugend lichen dicker geworden, bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sogar 32 Prozent. „Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen. Das ist alarmie- rend, denn Übergewicht kann schon bei Kindern und Jugendlichen zu Bluthoch- druck, einer Fettleber oder Diabetes füh- ren“, sagte Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin an der Universitätskinderklinik Halle/Saale und Sprecherin der Arbeits- gemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der DAG, bei der Vorstel - lung der Studie. Ungesunde Essgewohnhei- ten und Geschmacksvorlieben werden oft bis ins Erwachsenenalter beibehalten – mit fatalen Folgen für die Einzelnen und für die Gesellschaft. Lebensstilbedingte und damit weitgehend vermeidbare Erkrankungen, so- genannte Zivilisationskrankheiten, sind 6 bildung SPEZIAL 2| 2022
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SCHULE + UNTERRICHT in Deutschland schon jetzt Todesursache Nummer 1 – und nehmen weiter zu. Klare Vorgaben der KMK Gesundheitsförderung und Prävention sind, so die Empfehlung der Kultusminis- terkonferenz vom 15. November 2012, „grundlegende Aufgaben schulischer und außerschulischer Arbeit“ und gehören „zum Kern eines jeden Schulentwicklungsprozes- ses“. Ernährungs- und Verbraucherbildung sollen als Themen und Handlungsfelder der Gesundheitsförderung und Prävention „in den Unterricht der Fächer und in das Schul- leben alters- und zielgruppengerecht sowie schulform- bzw. schulstufenspezifisch inte- griert“ werden. © Hilla Südhaus/BLE Studie deckt Mängel auf Trotz dieser Vorgaben wurde die Ernäh- rungsbildung in Schulen lange unterschätzt und vernachlässigt. Nach einer 2019 ver- öffentlichten Studie der Universität Pader- born sind die Themen Essen und Ernährung zwar in den Bildungsplänen der Bundeslän- der für Kitas und Schulen verankert. Doch insgesamt gab das Team um Prof. Dr. Hel- mut Heseker der ernährungsbezogenen Bil- dungsarbeit in Kitas und Schulen keine allzu guten Noten. Im Pflichtunterricht wird Ernährungsb ildung in der Grundschule vor allem im Sach unterricht, in der Sekundarstufe meist im Biologieunterricht vermittelt. „Während im Sachunterricht der Grundschulen zum Teil mehrere Bereiche der Ernährungsbildung abgedeckt werden, wird im Biologieunter- richt vor allem die naturwissenschaftliche Perspektive in den Blick genommen“, so ein Fazit der Paderborner Ernährungswissen schaftler:innen. Praxiswissen zu Herkunft von und zum Umgang mit Lebensmitteln, In- formationen zu Esskultur oder zur regiona- len Vielfalt von Essen und Trinken stehen in der Sekundarstufe I eher selten auf dem Un- terrichtsplan. In einigen Bundesländern können die Schüler:innen Fächer wie Hauswirtschaft, Alltagskultur, Ernährung, Soziales oder Ver- braucherbildung wählen. Die Schwerpunkte sind jedoch von Bundesland zu Bundesland verschieden; zudem werden die Wahlpflicht- fächer nicht in allen Schulformen und nicht Was schmeckt wie? Auch Probieren gehört dazu, wie hier bei einer Unterrichtseinheit der BZfE. Und manches Kind kommt dabei auf einen anderen Geschmack. an allen Schulen angeboten. „Eine konti- nuierliche und verpflichtende Verankerung von umfassender Ernährungsbildung in der Schullaufbahn ist nicht gewährleistet“, lautet ein Kernergebnis der Studie. Zudem haben bis zu 70 Prozent der Lehrbücher fachliche Mängel. Auch um die Ausbildung der Lehrkräfte in puncto Ernährungsbildung ist es der Studie zufolge nicht sonderlich gut bestellt: Nicht in allen Bundesländern gibt es Lehramts studiengänge mit umfassenden ernährungs- bezogenen Inhalten. Im Lehramtsstudium für Sachunterricht und Biologie kommen er- nährungsbezogene Studieninhalte oft nicht vor. Und das Angebot an Fortbildungen reicht häufig nicht aus, um diesen Mangel zu kompensieren. Unterrichtsmaterialien und Fortbildungen Dies will das im vergangenen Jahr neu ein- gerichtete Referat „Ernährungsbildung“ im Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) in der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Er- nährung (BLE) ändern. „Wir erstellen Un - terrichtsmaterialien und -konzepte für alle Schulformen und Altersgruppen – von der Kita und Kindertagespflege über den Primar- und Sekundarbereich bis hin zur Erwachsenenbil- dung – und wir bilden Lehrkräfte fort“, sagt Referentin Dr. Mareike Daum. Rund 100 kos - tenfreie Fortbildungen mit mehr als 1.600 Teilnehmer:innen hat das BZfE im vergange- nen Jahr durchgeführt. Vor allem das Inte resse an Fortbildungen zu den angebotenen i Ungleich verteilt Ärmere Kinder und Jugendliche sind doppelt so häufig von einer ungesunden Gewichtszunah- me betroffen wie ihre finanziell besser gestellten Altersgenoss:innen. Während 23 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien stark zugenommen haben, wa- ren es in einkommensstarken Familien nur 12 Prozent. Dies belegt die Studie, für die das Mei- nungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Uni- versität München im März und April 2022 insgesamt 1.004 Eltern mit Kindern im Alter von 3 bis 17 Jahren befragt haben. bildung SPEZIAL 2| 2022 7
