Alles besser mit YouTube? Erklärvideos: Kompetenzorientierung statt Reproduktion Beim Unterrichtskonzept Flipped Classroom wird der klassische Lehrervortrag vom Klassen- zimmer als Erklärvideo nach Hause verlagert. Das Konzept des Lernens anhand von Videos ist jedoch keine Erfindung des digitalen Zeitalters. Statt Flipped Classroom bei YouTube hieß es vor 50 Jahren Telekolleg. Die „alten“ Erklärvideos lassen sich auch noch heute sinnvoll in den (umgedrehten) Unterricht integrieren. Doch zeitgemäße digitale Bildung muss deutlich mehr sein, als neue Möglichkeiten über traditionelle Lehr- und Lernkonzepte zu „stülpen“, fordert der Autor. Eine kritische Auseinandersetzung. Y ouTube-Lernvideos sind bei Schüle rinnen und Schülern äußerst beliebt: Manche Kanäle erreichen Millionen Klicks, Tausende Abonnenten, Hunderte Likes und zahlreiche lobende Kommentare. Von solch positiver Rückmeldung können Lehrkräfte nur träumen. Dabei haben „alte“ Telekolleg- Erklärvideos teilweise fachlich, didaktisch und gestalterisch deutlich mehr zu bieten als viele der heute so modern erscheinen den YouTube-Clips. Erklärvideos Die meisten Erklärvideos werden nach dem Prinzip produziert „Lehrer macht etwas vor – Schüler machen es nach“. Auf Plattformen Gründe für die Beliebtheit von Erklärvideos (angelehnt an [1]) i Dimension der Beschreibung Personalisierung Lernkontext Das Lernen ist orts- und zeitunabhängig. Die Schülerinnen und Schüler be- trachten das Erklärvideo zu einer beliebigen Zeit an einem selbst gewähl- ten Wohlfühlort (Sofa, Park, Schreibtisch). Suche passend zum Nutzertyp Bei YouTube wird mithilfe eines auf künstlicher Intelligenz basierenden Suchalgorithmus ein zu den Interessen und Vorlieben des Lernenden pas- sendes Video vorgeschlagen. Die Gefahr der einseitigen Filterblase wird dabei oft nicht wahrgenommen. Sozialform Es handelt sich um individuelles und eigenverantwortliches Lernen. Lerntempo Schülerinnen und Schüler können wählen, ob sie die Erklärung mit 1,5-fa- cher Geschwindigkeit oder dreimal hintereinander ohne negative Rückmel- dung anschauen. Lernansatz Sie entscheiden sich aus eigenem Antrieb für ein Erklärvideo und steuern so intrinsisch motiviert ihren Lernprozess. Lernpfad Schülerinnen und Schüler können sich Videos von mehreren Lehrkräften anschauen und erhalten so im Idealfall verschiedene fachliche Zugänge. Lernnetzwerk Sie wählen ein ihnen vertrautes soziales Netzwerk mit einfacher Sprache, Likes und Kommentaren. Lehrkraft Die Schülerinnen und Schüler wählen im Rahmen eines „Lehrer-Tinders“ ih- re „Lieblings-YouTube-Lehrkräfte“ nach Bewertungen, Sympathie, Authenti- zität, Persönlichkeit, Sprache, Humor und medientechnischer Umsetzung. wie YouTube stehen zahlreiche Filme zur Verfügung, bei denen engagierte Lehrkräf te z. B. am Whiteboard frontal das Lösungs prinzip einer Mathematikaufgabe nach der anderen erklären. Es handelt sich dabei oft um ein rezeptartiges, kleinschrittiges Vor gehen – ideal für das sogenannte „Bulimie- Lernen“ in kleinen Häppchen kurz vor der nächsten Klassenarbeit. Die wesentliche Methode ist das stumpfe Üben. Zahlreiche prozessbezogene Kompetenzen sowie das Verständnis bleiben auf der Strecke. Mit solch traditionellen Zugängen wird das Po tenzial von digitalen Medien im Unterricht aber nicht ausgeschöpft. Die Gründe für den Erfolg des Lernens bei YouTube liegen vor allem in der Möglichkeit, den Lernprozess unter Berücksichtigung von individuellen Faktoren wie Nutzertyp, Zeit, Ort und Lehrkraft stark zu personalisieren (siehe Tabelle links). Flipped Classroom Gerade in der Coronapandemie erlebte die Methode des Flipped Classroom zur sinnvol len Gestaltung von asynchronen Lernphasen im Fernunterricht einen großen Aufschwung. Aufgrund der positiven Erfahrung wird das Konzept nun auch im Präsenzunterricht im mer häufiger eingesetzt. Im Rahmen des geflippten oder umgedreh ten Unterrichts erfolgt die Reproduktion des Wissens anhand eines vorgegebenen Erklär 32 bildung SPEZIAL 2| 2021
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