Offene Geschichte – Geschichte selber denken Im Gespräch mit Prof. Dr. Bernd-Stefan Grewe von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen erläutert dieser die für den Geschichtsunterricht entwickelte, frei verfügbare Lernplattform Offene-Geschichte.de, die darauf abzielt, die Lernenden auf dem Weg zu einer eigensinnigen, selbst verfassten Geschichtser- zählung zu unterstützen. Eine erste Testversion steht bereits als digitales Lernangebot zur Verfügung. In den kommenden drei Jahren folgen weitere Module und ursprünglich vorgesehene technische Erweite- rungen und didaktische Entwicklungen werden laufend integriert. b+: Können Sie die Konzeptidee von „Of- fene Geschichte“ skizzieren? Bernd Grewe: Die Grundidee von „Offene Geschichte“ ist es, das selbstständige histo- rische Denken der Lernenden anzuregen und zu fördern: Geschichte selber denken! In un- seren Modulen geht es darum, dass Schüle- rinnen und Schüler selbst eine eigensinnige Geschichtserzählung verfassen. „Eigensin- nig“ meint dabei, dass sie sich ihr eigenes Bild von historischen Ereignissen und Pro- zessen machen, indem sie selbst historische Quellen untersuchen, verschiedene Inter- pretationen gegeneinander abwägen und schließlich zu einem eigenständigen Urteil kommen. Das kommt im Unterricht sonst oft zu kurz. b+: Was unterscheidet Ihren Ansatz von traditionellem Geschichtsunterricht? Bernd Grewe: Nahezu alle Geschichtslehr- kräfte würden einhellig erklären, dass ihr Unterricht historisches Lernen und quellenkri- tisches Arbeiten vermittelt und auch kompe- tenzorientiert ausgerichtet sei. Daran lassen ihre Selbstaussagen keinen Zweifel. Aber viel zu selten hinterfragen wir im schulischen All- tag noch, inwiefern unser Unterricht diese Ziele tatsächlich erreicht. Dabei können wir uns auch an der eigenen Nase fassen, auch in unserem Geschichtsunterricht haben die Aufgaben und die methodischen Entschei- dungen oft nicht unseren Idealen entspro- chen. Irgendwann haben wir aber in einer kritischen Reflexion festgestellt, dass wir ein selbstständiges historisches Denken nur bei einem Teil der Lerngruppe erreichten, dass Geschichte für die meisten Schülerinnen und Schüler nur ein notwendiges Übel darstellte, aber weder Interesse noch eine aktive Hal- tung zu geschichtspolitischen Fragen her- vorbrachte. Daran wollten wir etwas ändern. Die geschichtsdidaktische Unterrichtsfor- schung hat uns dabei geholfen, über neue Wege des historischen Lernens nachzu- denken. Mehrere empirische Studien haben belegt, dass in videographierten Geschichts- stunden nur sehr wenig mit historischen Quellen gearbeitet wird, im Durchschnitt weniger als 8 Minuten! Und die Gespräche und Diskussionen im Klassenplenum verlau- fen für die Lernenden nach wie vor noch im- mer nach dem Motto „Was will die Lehrerin/ der Lehrer gerade von uns hören?“. Auch die Problemorientierung und das „Entwickeln ei- ner leitenden Fragestellung“ am Beginn einer Stunde sind meist überhaupt nicht offen und letzten Endes läuft alles auf die vorformulierte Leitfrage der Lehrkraft hinaus (oder ihre Pa- raphrase). Das engt das selbstständige Den- Zwei Module von www.offene-geschichte.de: Zum Kriegsende 1945 und zur Katastrophe von Tschernobyl © offene-geschichte.de 14 bildung+ schule digital 1| 2021
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